Projekt Ramsesstadt

Die Erforschung der Ramsesstadt

Seit 1980 werden die Überreste der Ramses-Stadt systematisch erforscht. Im Gegensatz zu zahlreichen pharaonischen Tempel- und Friedhofsanlagen wurden bislang nur wenige altägyptische Städte genauer untersucht. Das Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, nicht nur einen Beitrag zur Erforschung der Stadtstruktur und Siedlungsentwicklung  zu leisten, sondern auch die daraus ablesbaren sozialen Bezüge zu ermitteln. Die Tatsache, dass im Gegensatz zur Ramses-Stadt viele andere altägyptische Städte z.B. durch moderne Überbauung, den jahrhundertelangen Abbau und die Wiederverwertung der Baumaterialien oder landschaftliche Veränderung, wie z.B. die Verlagerung der Flussarme, nahezu unerforschbar geworden sind, erhöht die Bedeutung des Projektes. Mit der Ramses-Stadt rückt eine geographische Region Ägyptens in den Fokus, die lange Zeit eher stiefmütterlich behandelt wurde, obwohl sie eine wichtige Verbindung zu den Zentren des syropalästinensischen Raumes und weiter nach Mesopotamien, der Türkei und Griechenland schafft. Deshalb ist es ein erklärtes Teilziel, sich besonders den Fragen nach überregionalen Zusammenhängen im Hinblick auf kulturellen Austausch, Technologietransfer und Handelsbeziehungen zu widmen.

Die Tatsache, dass die archäologischen Stätten im Fruchtland des Nildelta akut bedroht sind, erhöht die Dringlichkeit des Projekts, denn nur wenige, meist kleine Flächen dieser Region stehen unter dem Schutz der Antikenverwaltung. Die archäologischen Befunde der restlichen Areale sind insbesondere durch eine immer intensivere Landwirtschaft mit dem Einsatz größerer Maschinen, sowie durch das starke Wachstum moderner Siedlungen in großer Gefahr (Abb. 1). Demzufolge kann man das Projekt „Ramses-Stadt” fast als einen Notgrabung bezeichnen.

Das Projekt “Ramses-Stadt” begann zunächst als Joint-Mission des Österreichischen Archäologischen Instituts, Zweigstelle Kairo mit dem Roemer- und Pelizaeus-Museum (RPM), wurde später vom RPM eigenständig weitergeführt und von 1980-2010 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert. Zwischen 2011 und 2017 wurde es in Kooperation mit dem University College London, Zweigstelle Qatar, erfolgreich weitergeführt. Seit 2017 ist die Humboldt-Universität zu Berlin Partner des RPM bei diesem Projekt. Eine Vielzahl von Einzelaspekten wird in Zusammenarbeit mit verschiedenen ägyptischen und internationalen Forschungseinrichtungen und Fachleuten interdisziplinär untersucht. Über all die Jahre hinweg hat die ägyptische Altertümerverwaltung die Grabung nicht nur genehmigt, sondern auch nachhaltig unterstützt.

Die Publikation der Ergebnisse erfolgt in Form von Vor- und Spezialberichten in verschiedenen Reihen und Zeitschriften. Hauptuntersuchungen erscheinen in einer eigenen Reihe, den „Forschungen in der Ramses-Stadt – Die Grabungen des Pelizaeus-Museums Hildesheim” (Abk.: FoRa, Hrsg. Edgar B. Pusch / Manfred Bietak) (Abb. 2).

Seit 1980 wurden insgesamt acht Hauptgrabungsplätze und Sondagen eröffnet, die durchweg überraschende, teils sogar einmalige, Ergebnisse zu Tage brachten (Abb. 3). Die wichtigsten davon sollen im Folgenden vorgestellt werden:

Abb. 1: Blick auf die schnellwachsende Siedlung Qantir inmitten intensiv landwirtschaftlich genutzter Flächen
Titel Magnetik
Abb. 2: Titel des neuesten Bandes der Reihe Forschungen in der Ramses-Stadt
Abb. 3: Überblick über die Grabungsplätze der Jahre 1980-2004

Areal Q l: Hethitische Waffen und Bronzeherstellung

Abb. 4: Hethitisches Schildmodel mit Motiv des Achterschildes (© Projekt Qantir-Piramesse, Zeichnung Joachim Klang)
Abb. 6: Treiben der Metallbeschläge für einen Achterschild aus Holz, Leder und Bronze (© National Geographic Magazine, Vol. 179, No. 4, April 1991, p. 16)
Abb. 7: Importierte Amphore aus der Levante und mykenische Pilgerflaschen 93/0344C ( © Projekt Qantir-Piramesse, Photo A. Krause)

Die obersten, spät- und nachramessidischen Bauschichten (A-B/1) bestehen aus nur sehr rudimentär erhaltenen Bauresten und Artefakten, die erkennen lassen, dass der Grabungsplatz vor einem oder mehreren Friedhöfen eingenommen wurde. Die Ausdehnung dieses Friedhofsareals lässt auf eine bislang noch nicht entdeckte, ausgedehnte Siedlung schließen und damit auf einen historisch gesehen völlig neuen Sachverhalt.

Die darunterliegende, frühere Bauschicht (B/2) enthält Teile einer Streitwagengarnison mit angegliederten multifunktionalen Werkstätten. Es handelt sich hier um die erste architektonisch nachgewiesene Streitwagenanlage im gesamten Vorderen Orient. Sie besteht aus einem weitläufigem, mit Säulen bestandenen Exerzierhof, der mehrfach umgebaut wurde und enthält zahlreiche Hinweise auf umfangreiche nichtägyptische Aktivitäten innerhalb der Ramses-Stadt.

Die aufregendsten Funde dieser Bauschicht sind steinerne Treibmodeln mit deren Hilfe bronzene Beschläge für hethitische Schilde hergestellt wurden (Abb. 4-6). Weder aus Ägypten, noch aus dem Vorderen Orient sind bislang Parallelen bekannt. Durch diese Modeln wird der Nachweis erbracht, dass in der Ramses-Stadt Hethiter und Ägypter friedlich nebeneinander gelebt haben müssen. Dieser Umstand ist vermutlich als Folge zum Friedensvertrag zwischen den Großmächten Ägypten und Hatti und der diplomatischen Heirat Ramses`II. mit der Tochter des hethitischen Großkönigs Hattusili III. zu verstehen.

Der Nachweis ausländischer Präsenz wird durch die Auffindung von Keramik aus der Levante, Zypern und Mykene (Abb. 7) noch verstärkt. Ein ganz besonderer Fund war außerdem die Schuppe eines mykenischen Eberzahnhelmes. Aus all diesen Belegen darf auf intensive Kontakte mit den jeweiligen Kulturen geschlossen werden, die wohl über das bisher bekannte Maß hinausgehen. Demzufolge kann man in der Ramses-Stadt die Existenz von ausländischen „Botschaften” oder „Handelsmissionen” vermuten. Gestützt wird diese These auch von einem Türsturz (Abb. 8) im Roemer- und Pelizaeus-Museum, der nicht aus der Grabung stammt und einen Angehörigen der Oberschicht der levantinischen Stadt Sidon namens Ipua-Baal nennt, der eine sicherlich prunkvolle Villa in der Ramses-Stadt besaß, wie zwei in Qantir gefundenen Türpfosten ebendieser erweisen.

Weitere wichtige Entdeckungen standen in Zusammenhang mit den ausgegrabenen Werkstätten, in denen eine Vielzahl technologischer Besonderheiten festgestellt werden konnten, die in dieser Form zum ersten Mal beobachtet wurden. Dazu gehört nicht nur der Nachweis einer hoch arbeitsteiligen Produktionsweise, sondern auch Techniken der Metall- und Knochenverarbeitung, die sonst erst aus der klassischen Antike bekannt geworden sind.

Die nächst ältere Bauschicht (B/3) enthält die größte Anlage zur Bronzeherstellung, die je mit einer so frühen Zeitstellung im Vorderen Orient freigelegt worden ist. Durch diese Entdeckung musste die bisherige vorherrschende wissenschaftliche Auffassung, dass es im pharaonischen Ägypten nur handwerkliche Kleinbetriebe gegeben habe, aufgegeben bzw. modifiziert werden. Denn die Bronzeverarbeitung in der Ramses-Stadt mit einer Mindestausdehnung von ca. 60.000 m² steht beispielhaft für eine straff organisierte Großverarbeitung von industriellen Zuschnitt.

Abb. 8: Türsturz eines wr Ipua-B[a‘al], wahrscheinlich aus Qantir, Roemer- und Pelizaeus-Museum Hildesheim Inv.-Nr. HI 5.993. (© Roemer- Und Pelizaeus-Museum Hildesheim, Photo: Sh. Shalchi)

Areal Q IV: Streitwagenplätze und Pferdeställe ihrer Majestät

Auch der zwischen 1988 und 1998 bearbeitete Grabungsplatz Q IV enthielt zahlreiche Befunde, die zu überraschenden neuen Erkenntnissen führten: Unterhalb einer stark zerstörten Besiedlungsschicht des beginnenden 1. Jahrtausends v. Chr. und kaum erhaltenen Friedhöfen wurden ein weitläufiger königlicher Marstall mit einer Ausdehnung von ca. 17.000 m² für mindestens 460 Pferde (Abb. 9-10) entdeckt, der einer kleineren, früheren Stallung aufliegt. Dieser Marstall wurde später in seiner Funktion umgewidmet, indem er als Wohnraum genutzt wurde. Während einige Räume weiterhin als Stall verwendet wurden, dienten andere als Schlachterei oder reiner Wohnraum, wie die Auffindung eines Hortfundes erweist (Abb. 12). Einmalige „Pferdetoiletten”, reichhaltiges inschriftliches Material und andere Funde ermöglichen eine Datierung dieser Anlage in die Zeit der ausgehenden 19. und früheren 20. Dynastie, d.h. der Regierungszeiten der Könige von Sethos II. bis Ramses III. (ca. 1200-1156 v. Chr.). Besonders außergewöhnlich war der Fund von Säulenfragmenten, die durch den nur wenige Jahre regierenden Pharao Sethnacht, den Begründer der 20. Dynastie, dekoriert worden waren und eine Bautätigkeit in dieser Zeit dokumentieren.

In einer tieferen Schicht konnte die bisher älteste, archäologisch nachweisbare Rohglasherstellung der Welt dingfest gemacht werden. Tiegel, Rohstoffe, Abfälle wie Holzkohlen, unterschiedliche Schlacken, Halbfabrikate und Endprodukte erlauben die Erforschung der Herstellungstechnik und liefern so ein neues Kapitel der Technikgeschichte. Auch die Weiterverarbeitung zu gefärbten Gläsern, insbesondere des opaken, also nicht durchsichtigen Rubinglases (Abb. 11), können verfolgt werden. Eingebunden in diese Hochtemperaturtechnologie von ebenfalls industriellem Zuschnitt ist die Herstellung von sog. Ägyptisch Blau sowie ägyptischer Fayence.

Neben weiteren, bisher noch nicht geklärten, architektonischen Strukturen konnte in unterster Lage der Teil eines großräumigen Gebäudes, vielleicht eines Palastes Ramses`II. freigelegt werden. Dieser enthielt überraschende Befunde wie einen Fußboden mit Farbspritzern und Gold, eine vergoldete Holzstatue des Gottes Ptah sowie Beispiele einer reichhaltigen, gut erhaltenen Palastkeramik. Die Zuweisung an Ramses II. ist durch eine Inschrift in primärer Lage gesichert.

Abb. 9: Grundriss der Stallungen mit "Boxen" für je sechs Pferde pro Stallraum, Stratum Bb (© Projekt Qantir-Piramesse)
Abb. 10: Rekonstruktion der Stallungen (© Artefacts-berlin.de)
Abb. 11: Rubinglas-Barren, teilweise korrodiert, 87/0824 (© Projekt Qantir-Piramesse, Foto: Axel Krause)
Abb. 12: Schatzfund mit Haarringen und Halskette aus Gold und Karneol; "Schmuckkästchen", Keramik, 92/1035A-D, Stratum B/a (© Projekt Qantir-Piramesse, Foto: Axel Krause)

Areal Q V: Das "Auswärtige Amt"?

Abb. 13: Magnetogramm des potentiellen Auswärtigen Amtes, Grabungsplatz Q V (© Projekt Qantir-Piramesse, Magnetogramm H. Becker, BLfD, 1996)
Abb. 14: Darstellung des "Auswärtigen Amtes" im thematischen Grab des Tjaj (TT 23) (Abbildung nach Borchardt 1908)

Ein weiterer Grabungsplatz mit der Bezeichnung Q V wurde 1999 eröffnet. In ihm befindet sich ein weitläufiges Gebäude von über 8.000 m², dessen Grundriss (Abb. 13-14) mit einer Darstellung des “Auswärtigen Amtes” Ramses`II. im oberägyptischen Grab des „Königlichen Schreibers der Briefe des Herrn der Beiden Länder” namens Tjai (TT 23) verglichen werden kann. Auch diese Anlage hat, wie der Marstall im Grabungsplatz Q IV, einen kleineren, weniger spektakulären Vorläufer. Der Fund eines Models, das ein „Haus (altägyptisch “Per”) der Tausret” nennt, könnte darüber hinaus Überlegungen sowohl zum zeitlichen wie zum funktionalen Ansatz auslösen.

Außerdem waren in der ältesten, dritten Bauschicht wie im Grabungsplatz Q IV Werkstätten nachzuweisen, in denen Glas und Ägyptisch Blau hergestellt und wohl auch verarbeitet wurden.

Areal Q VII: Eine Freitreppe und der Zipfel des königlichen Archives

Der 2002 begonnene Grabungsplatz Q Vll enthält u.a. ein repräsentatives, auf einer Plattform errichtetes Gebäude mit einer Grundfläche von ca. 45 x 35 m, deren Architektur rein ägyptischen Standards entspricht (Abb. 15). Der besondere Reiz der Anlage basiert nicht nur auf seiner erhöhten Lage, sondern auch auf seiner Umfassungsmauer mit Veranden, dem weitläufigen Hof mit gut erhaltenen Fußböden, der zweizügigen zentralen Freitreppe (Abb. 16) und dem zentral gelegenen Säulensaal mit symmetrisch angeordneten Räumen. Der Türsturz eines Einganges war zwar verstürzt, konnte aber trotzdem vollständig geborgen werden. Im Rahmen einer Kooperation mit der Hildesheimer Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) wurde er von Dipl. Rest. Fabian Belter vollständig restauriert, so dass er heute wieder in alter Pracht den Namen Ramses`II. nennt (Abb. 18).

Während Fußböden innerhalb des Gebäudes nur äußert rudimentär erhalten sind, konnte aus einer gestörten Schicht das Fragment einer Keilschrifttafel geborgen werden, die zur diplomatischen Korrespondenz Ramses`II. mit dem hethitischen Königshof gehört (Abb. 17). Von den insgesamt elf Zeilen des stark verwitterten Täfelchens sind nur acht entzifferbar. Diese weisen Bezüge zum Friedensvertrag zwischen den Herrscherhäusern auf, nach dem Ramses´II. den Sohn von Hattusili III. bei eventuellen Wirren im Zuge der Thronfolge gegen innerhethitische Widersacher auch militärisch unterstützten sollte. Das Fragment scheint mit dem Vollzug dieses Paragraphen in Verbindung zu stehen. Als erstes innerägyptisches Gegenstück zum diplomatischen Archiv der Hethiter aus Boghazköy-Hattusa, ist es gleichzeitig ein Bruchstück des diplomatischen Archivs der Ramessiden und der erste stratigraphisch gesicherte Keilschrifttafelfund in Ägypten, seit dem Fund der sog. Amarna-Korrespondenz im Jahr 1888/89.

Weiterhin lieferte der Grabungsplatz Hinweise auf den Ablauf des Abbruchs der Ramsesstadt. Ein Ofen, der wohl zum Brennen von Kalk genutzt wurde, konnte anhand der Keramik in die frühe Dritte Zwischenzeit (ca. 1.050-950 v. Chr.) datiert werden. Damit liegt es nahe, diesen mit den Abbruchsarbeiten im Zuge der Verlegung der Residenz nach Tanis in Verbindung zu bringen. Für Bauarbeiten unbrauchbar gewordenes Kalksteinmaterial wurde vor Ort gebrannt, um zu Kalk verarbeitet zu werden.

Abb. 18: Türsturz des Gebäudes am Grabungsplatz Q VII mit der Nennung des Namens Ramses' II, FZN 02/334 (© Projekt Qantir-Piramesse, Foto: Axel Krause)
Abb. 15: Plan des Grabungsplatzes Q VIII mit den beiden Gebäuden. Das auf einer Plattform errichtete Gebäude ist gelb markiert. (© Projekt Qantir-Piramesse, Aufnahme mittels Totalstation: M. Burgmeier/E.B. Pusch, Interpretation und Zeichnung: E.B. Pusch, Bearbeitung: E.B. Pusch/K.-D. Uhe)
Abb. 16: Vorhof und Mitteltreppe Gebäude A – Blick von Nord über die Zentralachse mit Vorhof- Fußboden rel. d; die Nordwand und Laufebene der Veranda wurde mit Kalkputzen versehen; die zweizügige Treppe führte zu einem zweiflügeligen Tor; Profile teilweise abgebaut (© Projekt Qantir-Piramesse, Foto: Axel Krause)
Abb. 17: Keilschrifttafel-Fragment, 5,0 x 5,0 cm, gebrannte Keramik 03/0260 (© Projekt Qantir-Piramesse, Foto: Axel Krause)

Samana: Wasser für den Pharao

Abb. 19: Edgar Pusch bei der Arbeit im Brunnen (© Projekt Qantir-Piramesse, Foto: Axel Krause)
Abb. 20: Schematischer Schnitt durch den Brunnen (© artefacts-berlin.de)

Untersuchungen fanden auch in der etwa 1,5 km von Qantir entfernten Ortschaft Sama’na in den Jahren 2000/2001 statt.  Hier hatte der große ägyptische  Ägyptologe Labib Habachi zu Beginn der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts einen Brunnen Ramses’II. aufgedeckt, aber aufgrund des hohen Grundwasserstandes nicht vollständig ausgraben können (Abb. 19). Der in einem engen Innenhof liegende Brunnen konnte vollständig gereinigt und reichhaltige Keramik geborgen werden. Er wurde in einer offenen Baugrube, deren Grenzen unterhalb der rezenten Gebäude liegen, aus Talatat (Blöcke von Tempeln und Palästen) Amenophis’IV. erbaut. Die Gesamttiefe beträgt ca. 8,50 m und reicht bis 1,50 m unter den aktuellen Grundwasserspiegel (Abb. 20).

Besonderes Merkmal des Brunnens sind zwei Schichten aus Keramikscherben an der Schachtsohle, die vermutlich als sogenannter Gegenfilter zu interpretieren sind. Sie dienten dazu, im Wasser schwebende Partikel, die auf den Grund sinken, aufzufangen und eine permanente Aufwirbelung zu verhindern. Somit verbesserten sie das Wasser, das hier geschöpft werden konnte. Die Zusammensetzung des keramischen Materials (z.B. Amphoren und Teller) schließt darüber hinaus aus, dass es sich um Reste verloren gegangener Schöpfgefäße handelt. Ein solcher Befund ist bislang einmalig für das pharaonische Ägypten.

Darüber hinaus konnte im oberen Bereich eine bis zu 40 cm starke Packung aus fettem Nilton festgestellt werden, die offenbar das Eindringen potentiell verdreckten Oberflächenwassers in den Brunnen verhindern sollte. 

Es handelt sich somit um einen sehr technologisch ausgeklügelten Brunnen. Der Kontext ist definitiv als königlich/staatlich anzusehen, da die Verkleidung des Schachtes mit der Titulatur Ramses’ II. versehen ist. Die engste Parallele findet sich in den Brunnen der ramessidischen Festung Tell Abqain im Westdelta. Aufgrund der dichten modernen Bebauung ist die Umgebung archäologisch nicht erforschbar. Ob es sich auch um einen militärischen Kontext handelt, ist somit nicht beweisbar, aber durchaus möglich. In jedem Fall belegt der Brunnen, dass auch die auf dem damaligen Ostufer des pelusischen Nilarmes gelegene Gezira von Samana in ramessidischer Zeit genutzt wurde und vermutlich Teil der Stadt Pi-Ramesse war.

Außerdem waren in der ältesten, dritten Bauschicht wie im Grabungsplatz Q IV Werkstätten nachzuweisen, in denen Glas und Ägyptisch Blau hergestellt und wohl auch verarbeitet wurden.

Die magnetischen Messungen: Eine Stadt wird sichtbar

Abb. 21: Jörg Fassbinder beim Scannen im Bereich des Tell Abu el-Shafei (© Projekt Qantir-Piramesse, Foto: Axel Krause).
Abb. 22: Übersicht über die prospektierten Flächen 1996-2012. In der Mitte ist die moderne Ortschaft Qantir zu erkennen (© Projekt Qantir-Piramesse, Helmut Becker, Jörg Fassbinder und Edgar Pusch)

Zwischen 1996 und 2012 wurden magnetische Prospektionen in Zusammenarbeit mit dem Bayrischen Landesamt für Denkmalpflege, München, (BLfD) durch Helmut Becker, Jörg Fassbinder und Christian Schweitzer durchgeführt (Abb. 21). Innerhalb einer Gesamtfläche von ca. 2 km² lassen sich auf deren Basis mehrere Wohn- und Villenviertel mit Straßen, Plätzen und baumbepflanzten Alleen, Palast- und Verwaltungskomplexe, ein potentieller Hafen, Tempel und Teile eines Friedhofes interpretieren (Abb. 22). Die Auflösung der Daten geht dabei so weit, dass nicht nur Raumsequnzen, sondern auch einzelne Säulenfundamente, Pflanzgruben für Bäume und Sträucher, Türen und Tore, vereinzelt sogar Bettnischen in den Schlafräumen zu erkennen sind. Punktuell lassen sich auch entwicklungsgeschichtliche Aspekte ermitteln, z.B. wenn Mauern einander überschneiden oder ein Haus ein anderes teilweise überdeckt. Dass die prospektierte Fläche in erster Linie einen erheblichen Beitrag zur Erforschung der Struktur der Ramses-Stadt leistet steht außer Frage: Hier kommen die spezifischen Gegebenheiten des Siedlungsgrundes im Nildelta zum Tragen, die zu anderen städtebaulichen Lösungen als im engen Niltal führten. Bemerkenswert ist die Insellage des vermutlichen Stadtzentrums und die daraus resultierende Anordnung und Orientierung der baulichen Einheiten.

Die Stratigraphie übergreifenden Ergebnisse der einzelnen Grabungsplätze in Kombination mit den magnetischen Messungen offenbaren, dass alle früheren Rekonstruktionen zur Struktur der Ramses-Stadt keinen oder nur einen extrem begrenzten Bestand haben.

Die Ergebnisse der magnetischen Messungen wurden 2017 durch Edgar Pusch, Helmut Becker und Jörg Fassbinder umfassend in Band 9 der Forschungen in der Ramses-Stadt vorgelegt (Edgar B. Pusch/Helmut Becker, Fenster in die Vergangenheit: Einblicke in die Ramses-Stadt durch magnetische Prospektion und Grabung, Forschungen in der Ramses-Stadt 9, Hildesheim 2017, siehe auch Abb. 2).